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Perspektivenwechsel

Von Kerstin Huber

Von Irrungen und Findungen – Perspektivenwechsel als Lifehack im Alltag

Ich bin niemand, die sich durch einen auch nur annähernd guten Orientierungssinn auszeichnet. Meine Talente und Begabungen liegen definitiv in anderen Bereichen. Das hat über die Jahre in meinem Umfeld schon zu größerem Amusement geführt. Natürlich helfen Karten und digitale Dienste. Letztere mehr, weil sie ohne mein Zutun automatisch meinen Standort anzeigen und mir die Orientierung dadurch sehr erleichtern. 

Ich komme immer an meinem Ziel an, brauche allerdings manchmal etwas mehr Zeit, wenn ich unterwegs bin. Häufig führen diese Umwege aber mit zu den schönsten Zufallsentdeckungen und Erlebnissen. Das kennen sicherlich viele, die schon einmal vom Weg abgekommen sind. 

Vereint in geteilter Ahnungslosigkeit

Trotzdem scheine ich wohl oft so zu wirken, als wüsste ich genau, wohin ich steuere, denn nicht selten hängen sich Menschen (heimlich still und leise) an meine Fersen oder fragen mich nach dem Weg – sei es z.B. beim Strawanzen, Wandern oder in Flughäfen. Dann finde ich mich nicht allein am Ende einer Sackgasse, eines im Dickicht sich auflösenden Weges oder am falschen Einreiseschalter wieder.

Das hat neben den anschließenden gemeinsamen Orientierungsversuchen immer wieder den netten Nebeneffekt, kurz mit verschiedensten Menschen ins Gespräch zu kommen oder einen Moment der Heiterkeit zu teilen. Ob man nun eine gemeinsame Sprache spricht oder nicht, spielt da selten eine Rolle. 

Unwissenheit als Möglichkeit der Begegnung

Oft genug werde ich vor allem im Ausland auch aktiv von anderen angesprochen, wenn ich etwas länger stehenbleibe und versuche, mich zu zurechtzufinden. Diese Freundlichkeit, the kindness of strangers, ist für mich über die Jahre zu einer kleinen, feinen Bereicherung meines Alltags geworden, die ich versuche, in ähnlichen Situationen zurückzugeben.

Ich mag diese Begegnungen, die, gerade wenn man alleine unterwegs ist, zu einer anderen Offenheit führen. Wahrzunehmen, dass der andere vielleicht in diesem Moment etwas Hilfe gebrauchen könnte, ist auch schon eine kleine Form des Perspektivenwechsels.

Winkelfunktion der anderen Art

Gleichzeitig ist mir wichtig, mich nicht völlig von den digitalen Diensten und Landkarten abhängig zu machen, sondern zu versuchen, meinen Orientierungssinn zu trainieren. Vor allem in den letzten Jahren hat sich diese Schwäche peu à peu gebessert, da ich beruflich, und manchmal auch privat, sehr viel unterwegs bin, auch weltweit, auch allein.

Also habe ich für mich zwei Hilfsmittel gefunden, die mir die Orientierung erleichtern und meinen Sinn unterstützen: Zum einen rechne ich immer genug zeitlichen Puffer ein, so dass ich trotz eines möglichen Mehrwegs nicht unter zeitlichen Druck gerate. Das löst für mich ansonsten unnötigen Stress aus. Zum anderen drehe ich mich beim Gehen einfach ab und an um, um mir einzuprägen, wie der Weg von der anderen Seite her gesehen aussieht.

Habe ich vor, den gleichen oder einen Weg nahebei zurückzulaufen, setze ich dieses Drehen des Blickwinkels ein. Häufig ist dann das Bild, das sich zeigt, ein ziemlich anderes. Ich bin ein sehr visuell veranlagter Mensch, daher ist diese Methode für mich perfekt.

Perspektivenwechsel für den Alltagsgebrauch

Bin ich in Ländern unterwegs, die nicht mit dem lateinischen Alphabet arbeiten, dann helfen auch die (digitalen) Navigationsdienste nicht immer, mein visuelles Gedächtnis dagegen schon. Für weniger visuell veranlagte Menschen kann dieser Trick dennoch funktionieren, denke ich, da es ja nur darum geht, sich einige Landmarken und das veränderte Bild des neuen Blickwinkels einzuprägen.

Das ist für mich ein Perspektivenwechsel der ganz praktischen und pragmatischen Art. Praktisch ist nun der vielfach angestrebte Perspektivenwechsel auch in der Mediation und Konfliktberatung. Gleichzeitig stellt er ein ungleich vielschichtiges und wichtiges potenzielles Drehmoment im Einander-Verstehen und damit in der Beziehungsgestaltung und Konfliktlösung dar.

Perspektiven(wechsel) als multidimensionaler Wert in der Mediation

Die Perspektive zu wechseln, heißt die eigene Perspektive zu wechseln und die des Anderen einzunehmen, heißt sich in den Anderen hineinzuversetzen. In der Mediation und in der Auseinandersetzung mit Konflikten ist das die Basis, um den Anderen und seinen Standpunkt überhaupt zu verstehen, und ein bedeutender Wendepunkt.

Denn an diesem Punkt gehen die Parteien vom Ich zum Du über und zum Erkennen des Anderen und seiner Beweggründe, warum er*sie so handelt und sich so verhält, wie er*sie handelt und sich verhält. Das bereits an anderer Stelle erwähnte Fenster des Verstehens nach Gary Friedman und Jack Himmelstein beschreibt diesen Vorgang sehr plastisch.

Die Landkarte ist nicht das Gebiet

In der mediativen Form der Konfliktbearbeitung wird nicht nach den Positionen und Themen allein gefragt. Es werden vor allem auch die tatsächlichen Beweggründe für die Situation und die Standpunkte aller Beteiligter konkretisiert. Also das, was der eigentliche Motor für das jeweilige Verhalten ist: die Interessen und Bedürfnisse hinter den Themen.

Konfliktlösung und Beziehungsgestaltung können durch das Erkennen dessen, was allem zugrunde liegt, nachhaltig und sogar in einem Miteinander gelingen. Die eine Partei muss zwar nicht automatisch einverstanden sein mit dem Verhalten der anderen Partei, kann diese aber plötzlich besser verstehen.

Bedürfnisse, wie z.B. Sicherheit, Wertschätzung, Selbstbestimmung, Struktur, Freiheit, Effektivität oder Erholung, um nur einige wenige zu nennen, hat jeder Mensch. Sie sind allgemeingültig, grundsätzlich positiv behaftet und für den Einzelnen unterschiedlich in Gewicht und Bedeutung. Sie stehen nicht zur Diskussion, weil sie sind wie sie sind und sein dürfen.

Begriffserklärung: Perspektive

Nun zurück zum Wort und Phänomen des Perspektivenwechsels. Perspektive ist ein gängiger Begriff, Wechsel auch. Ein Blick in den DUDEN schadet dennoch auch in diesem Fall nicht. Denn dessen Definitionen umreißen die Bedeutungen des Begriffs Perspektive wunderbar kurz und bringen es auch im Zusammenhang mit Mediation auf den Punkt (https://www.duden.de/rechtschreibung/Perspektive#Bedeutung-2, 27.09.2023):

Perspektive =

  • „den Eindruck des Räumlichen hervorrufende Form der (ebenen) Abbildung, der Ansicht von räumlichen Verhältnissen, bei der Parallelen, die in die Tiefe des Raums gerichtet sind, verkürzt werden und in einem Punkt zusammenlaufen“
  • „Betrachtungsweise oder -möglichkeit von einem bestimmten Standpunkt aus; Sicht, Blickwinkel“
  • „Aussicht für die Zukunft“

 

Wunderbar sind diese Begriffserklärungen auch deshalb, weil jede einzelne auf Struktur und Wesen einer Mediation zutrifft oder für sie hilfreich ist. Punkt 1 wird im letzten, experimentelleren Teil des Textes eine Rolle spielen. Punkt 2, im direkten wie übertragenen Sinne, passt zu dem bisher Ausgeführtem. Punkt 3 findet sich im Mediationsprinzip der Zukunftsorientierung wieder: Die Vergangenheit kann wichtig sein, um Ursachen oder das Jetzt zu verstehen und einen neuen Kompass zu konfigurieren. Der Blick innerhalb einer Mediation und anschließend, und damit auch die Navigation geht allerdings immer Richtung Zukunft!

Walk The Talk – Perspektivenwechsel aktiv gestalten

Der Perspektivenwechsel wird im Mediationsprozess zentral in Phase 3 angestrebt, kann aber natürlich immer gefördert und trainiert werden. Welche Tools aus dem mediativen Werkzeugkoffer helfen in einer Mediation oder Konfliktberatung, aber durchaus auch im Alltagsgebrauch, einen Perspektivenwechsel bei sich und anderen einzuleiten, zu unterstützen und zu vollziehen? 

Methode: Stuhlwechsel

Der Stuhlwechsel ist eine sehr aktive Art, die Perspektive des Anderen einzunehmen, wenn er wortwörtlich umgesetzt wird: die eine Partei setzt sich auf den Stuhl der anderen und umgekehrt. Damit passiert automatisch ein Rollentausch, denn nun spricht x als y und y als x. Das ist meiner Erfahrung nach, auch wenn es anfangs befremdlich sein kann, effektiver als sich das Ganze rein gedanklich vorzustellen. Der*die Mediator*in leitet diesen Tausch durch aktives Zuhören und unterschiedliche Fragetechniken an.

Sich den Stuhlwechsel nicht nur gedanklich vorzustellen, sondern auf körperlicher Ebene wirklich zu erfahren, macht dabei einen großen Unterschied und vereinfacht gleichzeitig das Hineinversetzen in den Anderen und den Perspektivenwechsel sehr. Dabei darf alles passieren: es darf anstrengend sein, es darf herausfordern, irritieren. Es darf genauso spannend, abenteuerlich und erleichternd sein. Letztendlich ist es eine sehr effiziente Methode, besser zu verstehen und Bewegung in den Prozess Richtung Lösungsfindung zu bringen.

Stuhlwechsel: Methodenerweiterung

Eine Variante des Stuhlwechsels könnte sein, in ein kleines Rollenspiel zu gehen. Beide Parteien spielen eine für sie klassische, kurze Konfliktsituation nach. Zuerst spielen sich Partei x und Partei y selbst, dann tauschen sie die Rollen und x spielt y und umgekehrt – ab jetzt immer aus der Sicht und dem Selbstverständnis des Gegenübers. Das muss natürlich in der jeweiligen Situation und im jeweiligen Kommunikationsraum der Medianden angemessen und möglich sein. Im Anschluss an das Rollenspiel geht es ans Reflektieren mit Unterstützung des Mediators oder der Mediatorin.

Methode: aktives Zuhören und Wiederholen lassen

Auch in diesem Fall erklärt sich die Methode von selbst: Der Eine spricht, der Andere hört zu und wiederholt anschließend, was er gehört und vor allem wie er es verstanden hat – ohne zu (be)werten. Der Andere ist in diesem Fall nicht nur einer der Konfliktbeteiligten, sondern immer auch der*die Mediator*in. Das klingt alt bekannt, unterscheidet sich dann in der Praxis jedoch überraschend oft vom gewohnten, vermeintlichen Zuhören im Alltag.

Im Wiederholen zeigt sich sehr schnell, ob der Eine den Anderen verstanden hat, Mediator*innen eingeschlossen. Gleichzeitig kann der Andere sich korrigierend einschalten, wenn er sich nicht richtig verstanden fühlt. Das lässt sich auch ganz einfach in die Alltagskommunikation einbauen – ob in kleinen oder großen Schritten. In jedem Fall kann es dabei helfen, sich besser zu verstehen und Missverständnisse zu vermeiden oder direkt zu bemerken. In dieser Art und Weise miteinander zu sprechen, fühlt sich sehr schnell nach Wertschätzung an, selbst wenn man den Anderen nicht sofort richtig versteht.

Gleichzeitig wird dabei das Gesprächstempo verlangsamt, was einer aufgeladenen Situation oder einer konflikthaften Beziehung meist an diesem Punkt der Mediation oder Beratung sehr gut tut und für Ruhe und Raum zur Reflektion sorgt. Dass auch hier ein respektvoller Ton und Umgang miteinander zu den formalen Regeln gehört, dafür trägt im Falle des Falles wiederum der*die Mediator*in die Verantwortung.

Zuhören und Wiederholen lassen: Methodenerweiterung

Situativ sinnvoll ließe sich diese Methode mit einer Art vereinfachtem Zwiegespräch kombinieren. Das hieße, dass x wie y jeweils gleich viel Zeit bekommen, in der er*sie erzählen darf. Der Andere hört dabei nur zu, antwortet nicht, kommentiert nicht, fällt nicht ins Wort oder nutzt die Redepausen innerhalb des Zeitfensters für das eigene Sprechen. Anschließend ist der Andere an der Reihe. Anderen nur und ausschließlich zuzuhören, ist für viele sehr ungewohnt und kann herausfordernd sein, zumal in einer sehr medialen und individuell konzipierten Welt. Da können sich bereits ein oder zwei Minuten als sehr lang anfühlen.

Deshalb nenne ich diese Variante des Zwiegesprächs auch vereinfacht, weil ich den Gesprächszeitraum nicht sehr viel länger als zwei Minuten ausdehne, um die Medianden nicht zu überfordern, gerade wenn bei einer oder beiden Parteien der Wunsch sich mitzuteilen, ein großer ist. Es ist eine Variante, weil im klassischen Zwiegespräch Regelmäßigkeit von Bedeutung ist und auf eine Nachrede, einen Dialog über das Gehörte verzichtet wird.

Als Möglichkeit für einen angestrebten Perspektivenwechsel im Rahmen einer Sitzung kann es aber Sinn machen, nach dem angeleiteten, konzentrierten Zuhören in den oben beschriebenen Modus des Wiederholens und im besten Fall Reflektierens überzugehen.

Methode: Spiegeln

Im Spiegeln kann der*die Mediator*in den Part des Gegenübers einnehmen und Verhalten und Gesagtes zurückspielen. Dabei wechselt er*sie bereits in die Perspektive des Anderen und spiegelt das zurück, was er*sie meint, verstanden zu haben – Inhalte, Gefühle und Bedürfnisse. Das erfordert Fingerspitzengefühl und ein genaues Wahrnehmen in Mimik, Gestik und Gesagtem. Auch hier besteht natürlich die Möglichkeit, dass der Gespiegelte zurückmeldet, wenn er sich darin so gar nicht wiederfindet.

Der Andere begegnet sich dadurch ein Stück weit selbst, blickt in eine Art interaktiven Spiegel. Das führt zu Irritation und zu einer Musterunterbrechung im In-sich-und-Auf-sich-bezogen-Sein. Dadurch kann er ein Stück weit von außen auf sich schauen und eine gewisse Distanz aufbauen, die ihm wiederum den Perspektivenwechsel – wie er von anderen wahrgenommen und erlebt wird – erleichtert. Verbindet er*sie es mit der Methode des Reframens, kann zugleich ein positiver Impuls und neuer Blickwinkel gesetzt werden.

Wissen versus Erleben

Wissen und Erleben sind wie beim Stuhlwechsel auch hier zweierlei, weshalb ich das Spiegeln für ein ziemlich kluges und wirkungsvolles Werkzeug halte. Den Spiegel vorgehalten zu bekommen, heißt etwas selbst zu erleben: was ich sage, wie ich mich verhalte, wie es bei anderen ankommt. Das führt meiner Erfahrung nach zu einem viel schnelleren Begreifen und sich Hineinversetzen können, weil eben nicht nur die kognitive Ebene angesprochen wird. Zudem lässt sich die kognitive Ebene für einen selbst oft besser steuern und vielleicht sogar manipulieren als die emotionale und körperliche.

Ein Bild ist ein Bild ist ein Bild!… ist ein Bild?

Die erste, oben zitierte Definition von Perspektive…

„den Eindruck des Räumlichen hervorrufende Form der (ebenen) Abbildung, der Ansicht von räumlichen Verhältnissen, bei der Parallelen, die in die Tiefe des Raums gerichtet sind, verkürzt werden und in einem Punkt zusammenlaufen“

…bezieht sich nun auf die visuelle Darstellung von Dreidimensionalität in einem zweidimensionalen Medium, wie z.B. der Malerei oder einer architektonischen Zeichnung. Aber auch dreidimensionale Gebilde, wie Reliefs, Modelle oder Statuen können in ihrer Perspektivität über ihre eigene Körperlichkeit und ihr eigenes Ausgreifen einen weitaus größeren Raum aufmachen. Das Ganze erhält jedoch eine weitere Dimension, wenn der Betrachter und sein Standort miteinbezogen werden, also sein Blickwinkel, seine Perspektive.

Perspektivenwechsel im buchstäblichen und übertragenen Sinn

Hier soll es jetzt aber nicht um abstrakte oder kunsthistorische Überlegungen gehen, sondern um ein kleines spielerisches Bilderexperiment mit der eigenen Wahrnehmung und die damit verbundenen Interpretationen. Die Deutung des Gesehenen und Gehörten passiert fast automatisch, wenn nicht aktiv gegengesteuert wird. Auch das dient der Orientierung in einer komplexen Welt und hat daher seine Berechtigung.

Wie sehr sich aber die Perspektive und damit auch die Interpretation und das Verstehen, was ich da vor mir habe und beobachte, durch einen Wechsel (und auch durch Übung) verändern können, zeigen nachfolgende Bilder. Es bleibt jedem selbst überlassen, ob er*sie im Sehen und dem eigenen Reflektieren verbleiben oder einige erklärende Hintergrundworte lesen möchte.

Der Hochstand

Beide Male handelt es sich um dieselbe Leiter, je nach Standpunkt stellt sich die Perspektive aber völlig anders da. Sie zu erklimmen oder hinabzusteigen hat in beiden Fällen ein Für und Wieder, auch das hängt vom jeweiligen Standpunkt und der Situation ab und kann für zwei Menschen völlig Unterschiedliches bedeuten.

Nackter Jüngling (um 220 v. Chr.)

Nähert der Betrachter sich der Skulptur wie gedacht frontal von Vorne oder etwas seitlich, erschließt sie sich ohne Vorwissen nicht wirklich: ein nackter, schlafender Jüngling. Handwerklich perfekt gearbeitet, ringt der Bildhauer dem harten Material Marmor eine fast haptisch spürbare Weichheit der Glieder im Schlaf ab.

Umrundet der Betrachter allerdings die Skulptur (was bei jeder Statue ein spannendes Unterfangen ist), nimmt so eine andere Perspektive ein, entdeckt er das kleine Schwänzchen am Steiß. Aus dem menschlichen Jüngling wird die mythologische Figur eines Fauns. In diesem Fall diejenige des Barberinischen Fauns. Ein Faun in dieser sehr offenen Körperhaltung ist nun eine völlig andere Geschichte, als es die Darstellung eines Menschen in vergleichbarer Positur zu dieser Zeit wäre.

Peter Paul Rubens: Der sterbende Seneca (um 1612/1613)

Rubens malt das Bild um 1612/1613. Ausgangspunkt und Inspiration dafür war eine antike Statue, die er bei seinem Rombesuch in der Villa Borghese gesehen hat. Damals und für eine längere Zeit wurde diese Statue als ‚sterbender Seneca‘ gedeutet, was auch Rubens‘ Motivgestaltung entspricht. Mittlerweile wurde diese Deutung als falsch eingeordnet und die Statue als ‚afrikanischer Fischer‘ neu interpretiert.

Hier geht es um einen Perspektivenwechsel aufgrund von fehlender Information. Kennt der Betrachter die Rezeptionsgeschichte nicht, könnten theoretisch beide Deutungen gleichermaßen glaubwürdig präsentiert werden. Das Bild oder auch die Statue ist in sich stimmig und fügt sich passend in den jeweiligen Geschichtenkontext ein. Übertragen auf die Methode des Perspektivenwechsels bedeutet es, dass der Eine durch das Hineinversetzen in den Anderen und durch Zuhören und Wiederholen des Gesagten an neue Informationen gelangt. Das kann den eigenen Blickwinkel und die eigene Deutung verschieben und das Verstehen erleichtern.

Franz Marc: Vögel (1914)

Dass ein Perspektivenwechsel und dessen Gelingen auch etwas mit Übung und Gewohnheit zu tun hat, verdeutlicht das (und viele andere) Gemälde von Franz Marc. Dem heutigen Betrachter fällt es meist nicht schwer, im Bild drei Vögel zu identifizieren. Für die Zeitgenossen des Malers war dies allerdings sehr viel schwieriger und hat zu vielen Missverständnissen geführt. Ähnlich verhält es sich beispielsweise auch mit Claude Monets berühmten Heuhaufen-Bildern.

Der heutige Betrachter ist mittlerweile so geübt darin, die sich auflösenden Perspektiven in Farben und Formen zu sehen und zu erkennen, ist viel Abstrakteres gewohnt, so dass er selten darüber nachdenken muss, was er da vor sich hat. Natürlich sollte er sich auch in diesem Falle nicht selbst darüber hinwegtäuschen, die Komplexität dieser Bilder damit erfasst zu haben, was die Freude am Bild nicht mindern muss. Aber es zeigt ganz deutlich, dass sich Sehgewohnheiten verändern und auch trainieren lassen.

Genauso verhält es sich mit dem Perspektivenwechsel im übertragenen Sinne. Je häufiger eingesetzt und geübt, desto leichter fällt es dem Einen, sich in den Anderen hineinzuversetzen oder zumindest die richtigen Fragen zu stellen und sich des eigenen blinden Flecks in Bezug auf den Anderen bewusst zu werden.

Wer Freude an perspektivischer Verzerrung im Bild hat, findet sicherlich Gefallen am Gemälde Die Gesandten von Hans Holbein dem Jüngeren von 1533. Diese seltsame Verzerrung, die auf dem Boden sofort auffällt, lässt sich nur durch einen exakten Betrachterstandort, also durch eine exakte Perspektive auflösen, und entlockt dem Bild ein zusätzliches Rätsel…

Das Bild, das wir uns machen…

Selten ist das, was man sieht, das, was es ist. Das trifft auf Kunst wie Menschen gleichermaßen zu. Sich ein Bild vom Anderen zu machen, ist wesentlich, um sich in der Welt und im Miteinander zu orientieren. Sich dabei immer wieder um einen Perspektivenwechsel zu bemühen, auch wenn man ihn oder sie schon lange kennt, ist ein wichtiges Navigationsinstrument, das immer mal wieder neu justiert werden darf.

Das Copyright sämtlich hier gezeigter Bilder liegt bei Kerstin Huber.