Dynamic Facilitation: Interview mit Mediatorin und Konflikt-Moderatorin Kristina Henry
In diesem Beitrag möchten wir einen Blick über den Tellerrand wagen und zeigen, was es an verschiedenen Mediations- und Konfliktlösungstechniken gibt, die sich vom klassischen Phasenmodell der Mediation abheben. Gleichzeitig möchten wir die Personen dahinter vorstellen und etwas über deren Zugang zur Mediation erfahren. Hierzu hat unser Teammitglied Thomas Ziehl mit Kristina Henry zum Thema Dynamic Faciliation gesprochen.
Kristina Henry ist Mediatorin (BM) und Moderatorin, Ausbilderin für Dynamic Facilitation sowie Mitbegründerin und ehemalige Vorstandsvorsitzende des Vereins Dynamic Facilitation e.V. Sie arbeitet als Senior Beraterin und Moderatorin bei der Dialog- und Beteiligungsagentur Zebralog.
Thomas Ziehl (TZ): Wie bist du zum Thema Konflikte gekommen?
Kristina Henry (KH): Das ist schon lange her. Eigentlich über die konstruktive Kommunikation. Ehemalige Kolleg:innen haben mir einen Kurs an der Streitschule von Simone Pöhlmann und Angela Roethe in München empfohlen. Die zwei Pionierinnen der Mediation haben mich mit ihrer Art und ihren Methoden so begeistert, dass ich dort dann auch eine Mediationsausbildung gemacht habe. Es war also weniger ein Konflikt, der mich selbst beschäftigt hatte, als viel mehr die Freude an der Kommunikation. Ich komme aus der Informationswissenschaft und bin Übersetzerin. Rückblickend betrachtet habe ich also immer schon eine vermittelnde Haltung eingenommen. Vermittlung von Sprache als Übersetzerin, das Vermitteln im Streit in der Mediation und jetzt das Vermitteln bei der Bürgerbeteiligung.
TZ: Was fasziniert dich am Thema Konflikte?
KH: Tatsächlich fasziniert mich das Erleben der Lösbarkeit von Konflikten, dass es erlebbar ist, aus teilweise sehr verfahrenen Situationen zu Lösungen zu kommen und ein angemessenes Miteinander zu schaffen, selbst dann wenn die Betroffenen im Vorfeld schon geäußert haben: „Das wird wohl nichts mehr.“
TZ: Wann und wo hast du Dynamic Facilitation kennengelernt?
KH: Ich sage gerne, Dynamic Facilitation hat mich wie ein Bus gerammt. Da war ich schon etwa 10 Jahre als Mediatorin tätig und hatte in dieser Zeit viele Mediationen gemacht, vor allem Konfliktmoderationen in Gruppen. Mehr und mehr war ich mittlerweile weggekommen vom klassischen Phasenmodell der Mediation, bin da eher zwischen den Phasen hin- und hergesprungen. Irgendwie blieb aber für mich immer eine unbefriedigende Lücke.
Es ergab sich 2017, dass Kolleg:innen und ich Jim Rough, den Begründer von Dynamic Facilitation, einlud in der Nähe von Landshut in einem Kloster ein Seminar zu halten. Als ich dort diese Methode kennengelernt habe, war ich mitgerissen von dieser völlig anderen Herangehensweise an das Thema Konflikt, weil ich dort all das gefunden habe, was mir bisher in der 5-Phasen Mediation gefehlt hatte.
TZ: Kannst du diese Methode kurz für unsere Leser:innen beschreiben?
KH: Ja, gerne. Dynamic Facilitation ist eine Gruppenmoderationsmethode, die sich vor allem eignet, wenn es sehr vertrakt ist, wenn viele unterschiedliche Meinungen und viele Emotionen da sind und auch wenn es etwas vage ist, wenn noch nicht ganz klar ist, um was es unter der Oberfläche eigentlich geht.
Das Erkennungsmerkmal von Dynamic Facilitation sind die vier Flipcharts, auf denen die Moderator:in oder Facilitator:in ganz, ganz viel mitschreibt. Die Flipcharts haben die Überschriften: Fragestellungen, Lösungsideen, Bedenken und Informationen/Sichtweisen.
Wir machen eine sehr entschleunigte Form der Moderation. Dabei hören wir den einzelnen Teilnehmenden zu und sprechen immer nur mit einer Person. Gespräche unter den Teilnehmenden finden nicht statt. In 3 Schritten sorgen wir für Verlangsamung: ich höre zu, ich spiegle das Gehörte und dann schreibe ich das Gehörte auf eine der Flipcharts. Das hat den Effekt, dass die Leute wirklich zuhören, sich selber hören, aber vor allem auch die anderen hören. Es ist auf der einen Seite ein fast chaotisch anmutendes Verfahren, weil es keine Reihenfolge gibt, wer wann drankommt, sondern es sich nach der Dynamik der Situation richtet. Auf der anderen Seite ist es sehr strukturiert, weil wir eine sehr klare Ansage machen: Wir sprechen nur mit einer Person und die anderen brauchen dann teilweise viel Geduld, bis sie dran sind. Danach, wenn alle Teilnehmenden das sagen konnten, was ihnen wirklich wichtig ist, kommt eine Phase, in der Ruhe einkehrt und sich der Raum öffnet für „Aha, was machen wir jetzt? Was ist denn der Weg, der für uns alle gut ist?“. Ich beschreibe Dynamic Facilitation gerne als Weg vom ICH zum WIR. Ich bekomme immer wieder Rückmeldung von Teilnehmenden, die während des Prozesses die Sorge haben, dass es aufgrund der vielen unterschiedlichen Meinungen schier unmöglich scheint, zu einer gemeinsam getragenen Lösung zu kommen und dann aber am Ende dieses WOW-Gefühl erleben und davon berichten, dass sie wirklich eine Gemeinschaft gebildet, eine Verbindung aufgebaut haben und so zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen sind.
TZ: Schließt du dann andere Methoden an, um beispielsweise die Lösungsvorschläge zu konkretisieren?
KH: Ja, nach der Sammlung, die meist mit vielen gefüllten Flipchartbögen endetwerden die Ergebnisse gemeinsam reflektiert und beispielsweise die entstandenen Lösungen priorisiert. Wer mit Dynamic Facilitation seine Ideen, kreativen Gedanken und Bedenken austauscht, braucht am Ende kein Abstimmen mehr. Denn es ist allen klar geworden, was getan werden muss oder in welche Richtung die Gruppe denkt. Wie Oren Lyons es beschreibt: „We talk until there’s nothing left but the obvious truth.“ Dieses Erlebnis geht unter die Haut.
In großen Formaten wie Bürger:innenräten oder dem Wisdom Council Process werden Gruppenarbeiten angehängt, in denen die Empfehlungen oder Botschaften ausformuliert werden, die z.B. an politische Entscheidungsträger:innen kommuniziert werden sollen. Aber das ist nicht mehr Teil von Dynamic Facilitation.
TZ: Was ist das Besondere an Dynamic Facilitation, auch im Vergleich zur klassischen Mediation?
KH: Das Besondere ist, dass alles zu jedem Zeitpunkt willkommen geheißen wird. Es passiert im Prinzip etwas ähnliches wie in den 5 Phasen, aber eben alles gleichzeitig. Der Vorteil ist, dass die Teilnehmenden sich keiner äußeren Struktur beugen müssen, sich nicht verstrukturieren, sondern ganz den inneren Assoziationen folgen können. Das ist ein ganz anderer Gedanken- und Gefühlsfluss, als ich ihn aus der klassischen Mediation kenne.
Durch die Mitschrift aller Aussagen bleibt das Gesagte im Raum sichtbar erhalten. Da ist es keine Überraschung, dass die Teilnehmenden viel weniger wiederholen, als man es in anderen Settings kennt. Man kommt dadurch sehr schnell weiter und tiefer, hält sich nicht mehr an Oberflächlichem auf. Das andere ist für mich, dass bei Dynamic Facilitation der berühmte magische Moment der Mediation, also der Aha-Effekt der beispielsweise beim Perspektivenwechsel entstehen kann, hier schon im Konzept angelegt ist und automatisch und mehrfach passiert. Diese Durchbrüche führen immer tiefer in die Materie und zu immer passenderen Lösungen. Der dritte Aspekt ist für mich das Phänomen der Emergenz, das schwer zu beschreiben ist, bei Dynamic Facilitation aber erlebbar wird. Plötzlich tauchen neue Ideen oder Fragestellungen auf, oder es überkommt die Teilnehmenden ein Gefühl der Verbundenheit, das sie noch kreativer werden lässt. Diese Fülle nennt sich choice creating und ist ein zentrales Merkmal von Dynamic Facilitation.
TZ: Für welche Art von Konflikten und für welche Zielgruppe ist Dynamic Facilitation besonders geeignet?
KH: Mit Dynamic Facilitation schafft man sich einen Rahmen, mit dem man in sehr eskalierten Konflikten gut arbeiten kann, wo die Emotionen auch mal hochkochen. Ich würde die Anwendung aber nicht auf die sehr konfliktären Situationen beschränken. Dynamic Facilitation funktioniert auch gut in einfachen Meetings. Der Vorteil ist das gute Zuhören aller und – ganz profan – dass das Protokoll schon während des Meetings entsteht. Ein etablierter Anwendungsbereich sind die Bürgerräte nach dem Vorarlberger Modell. Da geht es um konkrete Projekte im kommunalen Bereich z.B. den Bau einer Umgehungsstraße. Oder was wir letztes Jahr gemacht haben, ist das Projekt Losland, bei dem sich 10 Kommunen in Deutschland der Frage nach der Enkeltauglichkeit widmeten. Man kann eben auch ganz große Themen angehen. Ich würde beispielsweise gerne mit Dynamic Facilitation erkunden, wie sich unser Bildungssystem umgestalten lassen könnte. Niemand weiß bisher so richtig, wie man solche Themen anpacken kann. Mit Dynamic Facilitation wird das aber möglich. Jim Rough, der Begründer von Dymamic Facilitation denkt noch größer und arbeitet an einem Global Wisdom Council Process, mit dem die Bevölkerung der ganzen Welt in ein fortlaufendes Gespräch gebracht werden soll, um gemeinsam die großen Herausforderungen unserer Zeit zu lösen.
TZ: Wo siehst du noch ein weiteres Anwendungspotential für Dynamic Facilitation?
KH: Wir haben ja mittlerweile sehr viel Erfahrung mit Bürgerbeteiligung auch in großen Prozessen wie z.B. den Klimaräten. Diese Erfahrungen würde ich gerne in die Unternehmen bringen. Es gibt einige Unternehmen, die mit ihren bisherigen Herangehensweisen bei ihren großen Herausforderungen nicht weitergekommen sind und offen für etwas Neues sind. Sozialorganisationen sind da teilweise schon weiter. So hat die Diakonie Hasenbergl in München ihren gesamten Organisationsentwicklungsprozess auf Dynamic Facilitation umgestellt.
Die Methode eignet sich für alle Gruppengrößen. Das klappt im Coaching, in der Mediation mit zwei Konfliktparteien oder eben mit ganz großen Gruppen wie beim Global Wisdom Council Process. Was ich mir auch gut vorstellen könnte, ist das ganz offen für Nachbarschaften in Stadtvierteln zu nutzen, wenn es z.B. darum geht wie ein Park genutzt wird etc. Da würde ich gerne einfach ein paar Stühle aufstellen, die Leute einladen und so mit den vier Flipcharts einen Raum für Begegnung schaffen.
TZ: Wo kann man denn Dynamic Facilitation lernen?
KH: Am besten informiert man sich bei www.dynamicfacilitation.org. Das ist die Webseite des Vereins Dynamic Faciliation e.V. Dort gibt es einen Terminkalender mit Kursangeboten im deutschsprachigen Raum. Ein Basisseminar dauert drei Tage. Die sind auch notwendig, denn gerade für manche ausgebildeten Mediator:innen, Coaches und Berater:innen kann es sehr herausfordernd sein, umzulernen und die für Dynamic Facilitation notwendige offene und sehr dienende Haltung einzunehmen und zu verinnerlichen.
TZ: Was beschäftigt dich denn gerade ganz aktuell in deiner Arbeit?
KH: Ich habe gerade zu der Dialog- und Beteiligungsagentur Zebralog gewechselt. Mit knapp 80 Kolleg:innen können wir ganz andere, umfassendere Beteiligungsprojekte durchführen, als ich es von kleineren Firmen oder aus Netzwerken Selbständiger her kenne. Das macht riesig Spaß, ist richtig aufregend und hat eine große Wirkkraft. In der Tiefe meines Herzens aber bewegt mich die Hoffnung, dass der Global Wisdom Council stattfinden wird, das globale fortlaufende Gespräch geloster Weltbürger:innen, weil ich überzeugt bin, dass dieser zum dringend nötigen gesellschaftlichen Wandel führen wird, zu „Society’s Breakthrough“.
Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg bei deiner Arbeit, liebe Kristina!
Weiterführende Links :
Homepage des Dynamic Facilitation e.V.: https://dynamicfacilitation.org/
Center for Wise Democracy von Jim Rough und die Beschreibung zum Global Wisdom Council: https://www.wisedemocracy.org/
Außerdem: https://www.losland.org/ und https://www.zebralog.de/
Literatur zu Dynamic Facilitation:
Jim Rough, Society’s Breakthrough! Releasing Essential Wisdom and Virtue in All the People. AuthorHouse 2002.
Bonsen/Zubizarreta, Dynamic Facilitation: Die erfolgreiche Moderationsmethode für schwierige und verfahrene Situationen. 3. Auflage. Beltz 2019.